Im Schatten den Corona-Pandemie sitzen viele Menschen zuhause in ihren 4 Wänden und können nicht in den Urlaub fahren. Kann eine Fototapete helfen unseren Wunsch nach Natur zu stillen? Als „Biophilic Design“ bezeichnet man heute die Tapete mit idyllischem Wald oder Strand. Was sich hinter diesem Design-Konzept verbirgt, was es mit uns macht und ob alles Gold ist was glänzt, kommt hier ans Licht.
Was bedeutet Biophilie und welches Konzept verbirgt sich heute dahinter
Der Begriff Biophilie wurde von Erich Fromm eingeführt und bedeutet „Liebe zum Leben“ oder „Liebe zum Lebendigem“. Es lohnt sich, den Ansatz zu diesem Thema bei Fromm nachzulesen. Da ich jedoch zuerst mehr an der unmittelbaren praktischen Anwendung der Erkenntnis, dass wir uns zum Lebendigen hingezogen fühlen, interessiert bin, biege ich von der biophilen Ethik von Fromm scharf ab und lande auf der Internet-Seite eines großen Teppichherstellers. Dort ist zu lesen:
„Biophilie beschreibt die „Liebe zum Lebendigen“ und unser Bedürfnis nach Kontakt mit der Natur. In einer städtischen Umgebung voller Technologie und industrieller Architektur verlieren wir immer mehr die Verbindung zur Natur. Biophilic Design ist ein innovatives Konzept, um eine natürliche oder naturnahe Umgebung für uns zu schaffen, in der wir leben, arbeiten und lernen. Indem wir bewusst Natur in unseren Innenraum oder architektonischen Design integrieren, verbinden wir uns unbewusst mit ihr – wir bringen die Natur in unsere konstruierte Welt.“ (…)
„Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen intelligentem Arbeitsplatzdesign und mehr Wohlbefinden sowie Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter. Schon einfache Maßnahmen zur Integration von Natur in den Arbeitsplatz können eine große Auswirkung darauf haben, wie Mitarbeiter sich fühlen, wenn sie ihre Arbeit beginnen, und wie zufrieden, kreativ und produktiv sie sich fühlen, wenn sie arbeiten.“
https://www.interface.com/EU/de-DE/campaign/biophilic-design/Einfuehrung-Biophilic-Design-de_DE
Mich erinnert diese unbewusste Beeinflussung an die Techniken der Werbung. Werbetreibende wissen ganz genau, welche Schlüsselreize sie einsetzen müssen, um die Sehnsucht nach einem Produkt zu wecken. Das Biophilic Design stillt die Sehnsucht nach Natur durch geschickte Imitation, mit dem Ziel, eine Umgebung lebensfreundlicher zu gestalten. Dabei wird getrickst wie in der Werbung, nur soll hier kein Kaufimpuls ausgelöst werden, sondern ein möglichst angenehmes und produktives Arbeitsumfeld entstehen.
Die Farbe Grün und das Natürliche
Einen zentralen Platz nimmt die Farbe Grün ein, ob als Pflanze, Tapete oder Teppich. Irgendwas macht sie mit uns, wir können uns der stressreduzierenden Wirkung dieser Farbe kaum entziehen, was bereits gut erforscht ist. Eine evolutionäre Theorie lautet, dass das Grün der Pflanzen an Wasserstellen immer besonders kräftig ist, und wir eine Wasserquelle, die womöglich unser Überleben sichert, positiv mit der Farbe Grün verbinden.
Nun ist die Biophilie wesentlich komplexer und besteht aus mehr als der Farbe Grün. Es stellt sich die Frage, was denn das Lebendige, das Gewachsene oder einfach die Natur von der „Konstruierten Welt“, wie es bei interface heißt, unterscheidet.
„In der Natur gibt es keinen rechten Winkel“.
Das wird schnell behauptet, stimmt aber nicht, trifft allerdings einen wichtigen Punkt. Die Natur ist nicht perfekt, es gibt immer kleine Abweichungen, also keine perfekte Symmetrie. Häufig ist es genau das, was wir als schön empfinden und sei es ein kleiner Makel wie ein Schönheitsfleck.
„Die Natur ist sinnlich“.
Alle unsere Sinne werden angesprochen. Es duftete, es klingt und fühlt sich dementsprechend an.
Wir lieben es, über verschiedene Oberflächen zu streichen, totale Stille macht uns unruhig, das Auge sucht nach Halt, wenn es zu wenig Strukturen gibt.
Mit diesen beiden Elementen, dem Vollkommenen, aber nicht Perfekten, und der Vielfalt der sinnlichen Eindrücke, lässt sich schon eine ganze Menge Design betreiben. Wie sich das weiter aufdröseln lässt, kann man anhand einiger schöner Beispiele bei interface entdecken (Eine Einführung zu den 14 Patterns of Biophilic Design.).
Daher biege ich hier wieder scharf ab und wende mich dem Thema zu, was es für mich bedeutet, das Glück in der Natur zu finden.
Das Glück in der Natur und der Wunsch nach Verfügbarkeit
Wie viele Menschen habe auch ich oft schöne Momente in der Natur erlebt. Für wen ist ein Traumstrand, eine Landschaft oder ein Waldsee kein Sehnsuchtsort? Fragen Sie sich mal selbst, wo sie jetzt gerade am liebsten wären…? An einer anderen Stelle sollte untersucht werden, wie weit ein naturnaher Sehnsuchtsort generationsabhängig ist – aber das nur am Rande.
Beglückende Naturerlebnisse beschäftigen auch Naturphilosophen wie z.B. Andreas Weber; er öffnet mit seinen Überlegungen ein völlig neues oder besser vergessenes Feld und geht viel weiter als die erwähnte evolutionäre Theorie. Seine Erlebnisse in der Natur würde ich als Gefühl der Verbundenheit und überwältigende Daseinsfreude bezeichnen.
Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von der Unverfügbarkeit solcher Momente. Wir können uns an schöne Naturplätze begeben, ob sie uns aber tief berühren und wir einen Glücksmoment, ein Gefühl der Resonanz, erleben, können wir nicht vorhersagen. Das bleibt unverfügbar, ist sozusagen ein Geschenk, das wir nicht kaufen können. Das macht, laut Rosa, diesen Moment so besonders. Rosa beschreibt solche Situationen mit „da beginnt die Welt zu singen“. So gesehen ist Biophilic Design ein in unserer Zeit passender Versuch der Verfügbarmachung solcher Glücksmomente. Dabei kann es nur das Abziehbild eines Glücksgefühls sein, im besten Fall eine Erinnerung an ein schönes Erlebnis, wie beim Ansehen eines Fotoalbums.
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass eine gut gemachte Fototapete funktioniert und eine positive Wirkung auch auf mich ausüben würde. Das rechtfertigt ihren Einsatz allemal! Aber dass beim Betrachten dieser Tapete die Welt zu singen beginnt, wage ich zu bezweifeln. Die Welt hat für mich im Urlaub, in den Dolomiten gesungen….
Das Geheimnis
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
(Joseph von Eichendorff)
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“
Nun bin auch ich nicht in der Lage, jeden Tag großartige Natur erfahren zu können. Wenn ich mich jetzt beim Schreiben in meinem Büro umsehe, bin auch ich in Wirklichkeit von biophilem Design umgeben. Und ich fühle mich verdammt wohl dabei! Gleichzeitig hoffe ich, dass kein Biophilie-Forschender je das ultimative Zauberwort findet und es verfügbar macht. Denn das Besondere an der Natur ist ihr Geheimnis – und nichts ist langweiliger als ein gelüftetes Geheimnis.
Ich hoffe, dass wir alle bald wieder in den Urlaub fahren und die wahre Natur genießen können!
In diesem Sinne, bis bald
Johannes Meyer-Dohm