»Was ist aus der Innenraumbegrünung geworden?« So oder so ähnlich sollte mein Blog-Artikel heißen. Konsumkritik und Zweifel an der sogenannten Green Economy und die Frage danach, welche Heinzelmännchen zukünftige Dschungellandschaften im Innenraum pflegen sollen, haben mich umgetrieben. Das bleibt Ihnen erspart! Bei meiner Recherche durchstöberte ich die EILO‘s Best Project Awards (EILO = European Interior Landscaping Organisation). Dabei bin ich auf etwas gestoßen, das mein Interesse geweckt hat: Aus der Liebe zu Hänge- und Rankpflanzen ist ein Hang zur Verwilderung geworden.
Was haben wir für eine Beziehung zu verwilderten Orten? heute sagt man auch »Lost Places«. Woher kommt die Faszination und wie funktioniert das in der Innenraumbegrünung? Das sind Fragen, denen ich hier nachgehen möchte.
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Der EinstiEg:
Über das Aufhängen von Pflanzen. ein neues und zugleich altes Gestaltungsthema.
Seit vielen Jahren gehören hängende Pflanzen zum festen Sortiment der Innenraumbegrünung. Das war nicht immer so. Ich kann mich gut an Zeiten erinnern, in denen Ampelpflanzen fast vergessen waren. Wie auch die 3er Ampel aus Drahtkörben für Obst und Zwiebeln in der Küche. Im Zuge einer allgemeinen Retrowelle kam auch die gekonterte Makramee-Blumenampel zurück und die Großhändler nahmen die Ampelgefäße wieder in ihr Sortiment auf. Als besondere Innovation sei‘ hier das hängende Pflanzengefäß Merkur genannt. Mehr Informationen hier.
Das Thema »Hängen« ist seitdem »gewachsen«. Wir reden nun über Pflanzenvorhänge und grüne Decken. Mir begegnen immer mehr Projekte mit großen Brüstungsgefäßen, aus denen sich üppige Pflanzen in ein Atrium »ergießen«. Deckenbegrünungen mit Kunstpflanzen, die an eine grüne Tropfsteinhöhle erinnern, gewinnen Preise. (siehe Eilo Best Project Awards 2021). Auch das Projekt »Hotel Dorothea« in Budapest, das mich auf die Spur der »Lost Places« in der Innenraumbegrünung geführt hat, ist geprägt von hängenden Pflanzen, die aus der Galerie in langen Ranken nach unten hängen.

Zum Grundsätzlichen:
Was fasziniert uns an verwilderten Orten? woher kommt die starke Anziehung, die sie auf uns ausüben?
Normalerweise trennen wir die konstruierte, menschengemachte Welt von der natürlichen, gewachsenen Welt. Und normalerweise wenden wir große Mühe und Energie auf, um Dinge zu erhalten. Ohne diese Anstrengungen verfallen menschengeschaffene Strukturen und werden durch die Natur und Verwitterungsprozesse in einer Art Metamorphose »überformt«, bis sie verschwunden sind. Das Kräfteverhältnis verschiebt sich in Richtung Natur, absichtlich oder ungewollt.
So entstehen nicht selten malerische, geheimnisvolle Orte, die zu »Entdeckungsreisen« einladen. Gestalterisch gesehen ist dies eine reizvolle Konstante aus harten und weichen Strukturen, menschlicher und pflanzlicher Art. Ich halte es jedoch in diesem Fall für interessanter, nicht die Gestaltungstheorie zu betrachten, sondern das emotionale, assoziative Erleben dieser Orte genauer zu untersuchen.
Jeder Raum hat eine Wirkung auf uns, wir empfinden ihn als eng, heiter, vertraut oder sogar als unheimlich. Menschlich geschaffene, besonders städtische Räume, sind Ausdruck rationalen Denkens, sie machen Vorgaben und erzwingen ein bestimmtes Verhalten, das nicht nur als pragmatisch angenehm, sondern auch als übergriffig empfunden werden kann. Damit transportiert unterschwellig jeder Raum, ob Hochhaus oder Einkaufszentrum, ein bestimmtes Menschenbild. Dazu kommt ein Bedürfnis der Menschen, sich Räume anzueignen, sich mit einem Ort zu identifizieren, sich abzugrenzen, darin zu leben und ihn zu ihrer Heimat zu machen. All dies, das Schaffen von Räumen und das Bewohnen dieser Räume, orientiert sich an individuellen Bedürfnissen, aber auch an der jeweiligen Kultur, an Ideologien, Institutionen und Wertevorstellungen. So entsteht ein hoch komplexes, emotionales und subjektives Erleben von Räumen.
Jetzt kommt die Natur ins Spiel. Sie ist im Fall von »Lost Places« nicht bewusst inszeniert, sie erscheint in ihrer authentischen Ursprünglichkeit. Sie folgt keinem menschlichen, rationalen Plan und kümmert sich nicht um Sicherheitsthemen wie Statik und Barrierefreiheit. Damit hat sie etwas Rebellisches. Wir erleben an solchen Orten die Kraft der Natur auf eindrückliche Weise unmittelbar. Ohne arrogant zu wirken, schert sie sich nicht um unsere Werte, sie ist beunruhigend und schön zugleich, sie erschafft Neues und zerstört Altes. Sie schafft Großes, in dem sie z.B. ein ganzes Haus verhüllt. Dabei ist ihre Bewegung ohne Zeitraffer für uns nicht sichtbar. Wir werden schmerzhaft Zeugen von Verlust und Vergänglichkeit und schwelgen im selben Moment in Erinnerungen.
Diesen Eigenschaften der Natur, (die ich bewusst menschlich beschrieben habe, denn wir reden über Gefühle), kann sich kaum jemand emotional entziehen. (siehe hierzu auch meinen Blogartikel Beziehung Pflanze – Mensch, ein zerbrochener Spiegel?)
Es ist die Ambivalenz von Gefühlen, so etwas wie »schaurig-schön« oder »Wehmut«, die ein reflektiertes Nachdenken über uns selbst auslösen können. Ich glaube, dass dieses »Bad der Gefühle« den Reiz und die Faszination dieser Orte ausmacht.

Wieder-Wild-Werden: Die Theorie des verlorenen Paradieses.
Schon vor langer Zeit begegnete mir eine Theorie, die unsere Sehnsüchte und Vorlieben erklären will (zugegeben ziemlich universal, aber ich finde, sie passt an dieser Stelle).
Beim jüdischen Museum in Berlin befindet sich ein Robinienwäldchen, das ungeplant auf einem Nachkriegstrümmerhaufen gewachsen ist. Die Landschaftsarchitekten erhielten diesen Ort und nannten ihn Paradiesgarten. Während der klassische Paradiesgarten ein eingefriedeter Ort ist, der sich gegen die wilde und gefährliche Natur abgrenzt, geschieht dies hier umgekehrt: Die Natur ist erhaltenswert, wieder wild geworden und wird vor dem Eingriff durch die Menschen geschützt.
Nun zur Theorie:
Wie bei der Umkehrung des Paradiesgedankens gibt es auch einen Wertewandel, der nicht automatisch das Neue und Innovative als besser ansieht und im Gegenteil deren Sinnhaftigkeit hinterfragt. Gleichzeitig ist ein Rückgang der Bedeutung von Spiritualität und Religion im Leben vieler Menschen zu beobachten. Diese Lücken werden mit Lebensstil und Konsumverhalten gefüllt. Trotzdem bleibt eine Leere, die mit der Natur als archetypische Qualität gefüllt werden kann. Heute tritt ein tief emotionales Naturerlebnis an die Stelle eines Kirchenbesuches. Ein Aufenthalt in der Natur kann zu einer Entschleunigung führen wie kaum ein anderer, die Natur wird damit ein Gegenpol (Sehnsuchtsort) zu unserer beschleunigten Welt.
Ein flüchtiger Eindruck, z.B. während der Erkundung eines verwilderten Ortes, in dem sich diese archetypische Qualität der Natur zu erkennen gibt, kann zu einer Unzufriedenheit mit der alltäglichen Welt führen. Mit der Entfernung zur Natur wächst die Sehnsucht nach ihr. Laut dieser Theorie sehnen wir uns alle, bewusst oder unbewusst, nach dem verlorenen Paradies. (Siehe hier zur auch mein Blogartikel: Biophilic Design – der Wunsch nach Natur.)
Passend dazu fand ich im Buch »Der Hang zur Verwilderung« (1986) von Cordula Loidel-Reisch folgende Absatz:
»Für Bollnow ist ein Interesse an der ursprünglichen Herkunft des Menschen eine romantische Haltung, die Bevorzugung der zu den Ursprüngen heimkehrender Bewegung, der Weg zu den unbewussten Gründen der Seele, die ihren Sinn aus der Heimkehr, jener Gegenbewegung bezieht, der eine große ausgreifende Bewegung in die Fremde – eine Entfremdung – vorausgegangen ist.«
(vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, 1984, S.119).
So bringt eine von natürlichen Abläufen entfremdete Zivilisation heute als Gegenausschlag »…eine Betrachtung gestalteter Räume unter dem Aspekt des Mythischen und Archetypischen hervor«. (Pohlen Annemarie: Zeichen und Mythen- Orte der Entfaltung 1982, S.13). Kritische Stimmen behaupten mittlerweile, dem gegenwärtigen Trend hafte ein „Flair des Modischen an“, sie sprechen abwertend von einer „Mode des Sinneskultes“.
(Loidel-Reisch, Cordula, Der Hang zur Verwilderung,1986, S. 20)

Ruinen: Gestern und heute
Wenn wir über »Lost Places« reden, kommen wir an Ruinen nicht vorbei. Das müssen nicht alte Burgen sein, sondern auch z. B. Industrieruinen oder Gebäude aus dem letzten Jahrhundert. Häufig spielt die Verwitterung, die Wechselwirkung mit den Elementen, eine große Rolle, an machen »Lost Places« oder Ruinen sind gar keine Pflanzen zu finden. (Über die Schönheit des Vergänglichen, die sich auch in Verwitterungsprozessen zeigt, habe ich in meine Blog-Artikel: Pflanzen, Tod und die Schönheit des Vergänglichen geschrieben.)
Mich interessiert an dieser Stelle mehr die Verwilderung von Orten, die Stimmung, die damit einhergeht, wenn Efeu und wilder Wein sich über Gemäuer legen und eine große Birke, scheinbar ohne Erde, an einer abgebrochenen Dachkante wächst.
Der Reiz von Ruinen ist nicht neu. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann man sich in barocken Gärten zu langweilen und interessierte sich für den emotionalen Landschaftspark mit allerlei dekorativen Elementen wir Grotten, Grabmälern, Wasserfällen und sogenannten Teufelsbrücken.
»Etwas später in der Romantik entstand speziell im deutschsprachigen Raum eine Sonderform der Gartenarchitektur. Die Rückbesinnung auf die Ideale und die Moral des längst vergangenen Zeitalters der Ritter und ihrer Burgen. (…) Künstliche Ruinen hielten Einzug in die Landschaft, häufig in Form einer Nachbildung einer kleinen verfallenen Burg«, (Quelle: sachsens-schlösser.de).
Die so inszenierten, häufig künstlichen Ruinen wirken wie eine Metapher für Verfall und Vergänglichkeit. Es sind Stimmungsbilder voll elegischer Sentimentalität, aber auch einer »Melancholischen Euphorie. (…) Die Trümmer der Artefakte können eine Idealisierung bis hin zu einer Rückwärtsgewandten Utopie erfahren.« (Loidel-Reisch, Cordula, Der Hang zur Verwilderung, 1986, S. 28)
Heutige Parkanlagen, in denen Überreste von Industrieanlagen integriert wurden oder gar Parkanlagen, die auf ehemaligen Zechengelände entstehen, zeigen, dass die Faszination der »Ruinenromantik« immer noch aktuell ist.

Wie kommt die Wildnis in den Innenraum: Lasst den Dingen einfach Ihren Lauf?
Am Beginn steht ein denaturierter Innenraum, abgeschnitten von der Außenwelt ohne Morgentau und Abendhauch. Es ist eine große Herausforderung, hier eine „Wildnis“ zu installieren. Gelingen kann dies nur mit genauer Kenntnis über die Ansprüche der Pflanzen und die technischen Möglichkeiten ihrer Versorgung.
Natürliches Pflanzenwachstum findet dann statt, wenn es gelingt, der Pflanze bezüglich ihrer Ansprüche und Vorlieben ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnt (sinngemäß Prof. Dr. K. H. Stauch). Das ist die Grundvoraussetzung!
Ziel ist es, eine Wildnis mit hohem »Natürlichkeits-Faktor« zu imaginieren. Der Gärtner und die Gärtnerin erschaffen dazu malerische Szenarien wie Bühnenbilder. Zum Gelingen gehören Pflanzen, die sich frei und eigenständig entwickeln können, also nicht regelmäßig gestutzt und in Form gebracht werden müssen.
»Lass‘ den Dingen ihren Lauf und freue dich an reizvollen Zwischenstadien« ist hier das Motto. Dem sind jedoch Grenzen gesetzt. Gewünscht ist eine Synthese aus Natürlichem und Künstlichem. Jegliches Getier in Form von z. B. Insekten muss ferngehalten werden können. Was wild erscheinen soll, bedarf strenger Pflegepläne. Anders als bei herkömmlicher Innenraumbegrünung, die ein starres Idealbild verfolgt, muss die Pflege hier als »Sukzessionssteuerung« verstanden werden. Das heißt, ein stetiger, lenkender und gefühlvoller Pflegeeingriff, der im Bestfall nicht zu erkennen ist.
Eine Begrünung nach Art der »Lost Places«, wie ich sie verstehe, ist stark assoziativ, vielschichtig mit einer hohen sinnlichen, fast poetischen Qualität. Dazu gehören auch unerwartete Veränderungen. Hier sind die Gestaltenden gefordert, den Raum zu analysieren und passende Bilder zu erschaffen. Die Dynamik der Pflanzen macht die Inszenierung dann lebendig.
»Ein alter Garten ist immer beseelt. Der seelenlose Garten braucht nur zu verwildern, um sich zu beseelen.« (Hugo von Hofmannsthal (1874-1929)

Zu Guter Letzt: Wissen »To Go«
Wussten Sie, dass der Ausdruck »Lost Place« ein Pseudoanglizismus ist, so wie z. B. Public Viewing? Er bedeutet sinngemäß »vergessener Ort«. Der korrekte Ausdruck im Englischen lautet jedoch »abandoned premises«, also »aufgegebene Liegenschaft« oder umgangssprachlich »off the map«. (vergl. Wikipedia).
Also wieder was gelernt!
In diesem Sinne
Bis bald