Ich habe einen Freund. Er ist in einem Alter, in dem jeder zweite Satz das Wort „Warum“ enthält. Einige Fragen sind einfach zu beantworten, andere schwieriger und es gibt Fragen, die mich länger beschäftigen. Ich stelle dann fest, dass meine spontane Antwort bei weitem nicht ausreichend war. Um eine ausführliche Antwort nicht schuldig zu bleiben, habe ich begonnen, einige seiner Fragen schriftlich zu beantworten, wohl wissend, dass er noch nicht lesen kann, aber das wird er irgendwann können und sich dann über meine Zeilen freuen.
Wenn Sie Lust haben, lesen Sie, was mir zu der Frage „Johannes, warum sind Pflanzen schön?“ alles eingefallen ist. Ich bin mir sicher, mein Freund wird nichts dagegen haben.
Warum sind Pflanzen schön?
Lieber T.,
ich mag Deine Fragen! Du fragst nicht, „Warum wir Pflanzen schön finden?“, sondern Du fragst, „Warum sind Pflanzen schön?“.
Auf die Frage, warum wir Pflanzen schön finden, gibt es eine ganze Reihe von Antworten. Die Frage, warum Pflanzen schön sind, ist schon etwas schwieriger zu beantworten. Verzeih‘ mir, wenn ich bei der Beantwortung Deiner Frage immer wieder abschweife. Ich verspreche Dir, dass Du, wie gewohnt, am Ende eine einfache Antwort finden wirst. Beginnen wir mit der Frage, warum wir Pflanzen schön finden.
Zuerst nehmen wir Pflanzen und andere Gegenstände mit unseren Sinnen wahr. Dann verarbeiten wir diese Eindrücke mit unserem Gehirn. Wir gleichen alles mit unseren Erfahrungen ab und es kann sein, dass wir uns beim Anblick mancher Dinge an eine besonders angenehme Erfahrung erinnern, die andere Menschen so nicht gemacht haben. Deshalb finden manche Leute Dinge schön, die andere nicht so schön finden. Das hat erst einmal nicht so viel mit dem Gegenstand oder der Pflanze an sich zu tun. Es gibt aber auch universale Gesetzmäßigkeiten, die wir als schön empfinden, unabhängig von unseren Emotionen. Und diese Regeln finden sich ganz besonders im Pflanzenreich. Das sind Regeln der Ästhetik, die unter anderem Proportionen, Symmetrien und zum Beispiel Wiederholungen betreffen, die wir Menschen allgemein als schön empfinden. Die Regel der sogenannten „Gebrochenen Symmetrien“ wurde gewissermaßen von der Natur „erfunden“. Aber darum soll es hier gar nicht gehen. Und natürlich könnte man auch noch sagen, dass unser Leben von den Pflanzen abhängt. Sie produzieren den Sauerstoff zum Atmen und ernähren uns. Wo Pflanzen wachsen, gibt es lebenswichtiges Wasser. Vielleicht haben wir einfach gelernt, sie schön zu finden, weil wir Pflanzen zum Leben brauchen und sie uns seit Bestehen der Menschheit umgeben.
Es gibt Philosophen, die meinen, dass wir die Natur (und damit auch Pflanzen) schön finden, weil sie nichts von uns will, keine Ansprüche an uns stellt. So schrieb Friedrich Nietzsche: „Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.“
Wenn ein Lebewesen Freude ausstrahlt, sei es ein Vogel, der sich durch die Lüfte schwingt, oder eine Pflanze, die ihre Blätter in die Morgensonne streckt, kann ein Funke dieser Freude auf uns überspringen und wir empfinden dann so eine Situation auch als schön. Wir werden berührt und können diese Freude nachempfinden. Das geht, weil wir selbst Lebewesen sind.
Aber zurück zu Deiner Frage.
Was ist denn schön? Ich habe dazu eine Definition gehört, die lautet: „Wenn etwas aufregend und beruhigend zugleich ist, kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass es schön ist“. Das klingt philosophisch und hat nicht mehr so viel zu tun mit dem Vermessen von Proportionen. Aber auch hier geht es wieder um das Empfinden von Schönheit. Es geht um die Wahrnehmung, die jemand von etwas hat. Die Wirkung, die etwas auf jemanden ausübt. Aber was ist, wenn keiner die Pflanze sieht, keiner die Pflanze wahrnimmt? Ist sie dann immer noch schön? Entsteht Schönheit, wie man so gerne sagt, nur im Auge des Betrachtenden? Also ein bloßes Urteil des Geschmacks? Nach welcher Regel? Und wie wird hier geurteilt? Auch diese Fragen weisen wieder in eine Richtung, die nicht zu einer Antwort auf Deine Frage führt.
Beim Nachdenken über Deine Frage hat es mir geholfen, Schönheit durch Harmonie zu ersetzen. Harmonisch heißt ausgewogen, ausgeglichen, nicht kippend und nicht chaotisch, sondern sicher und ausbalanciert, wohlklingend, nicht dissonant. Und meinst Du nicht, dass dies alles sehr gut auf Pflanzen zutrifft? Eine Pflanze hat das eigene Interesse sicher zu stehen und ausbalanciert zu sein. Das tut sie nicht, um jemandem zu gefallen, das tut sie aus einem Überlebenswillen oder Selbsterhaltungstrieb heraus, der seinen Ursprung im Lebendigen hat. Alles, was lebt, möchte sich vervollkommnen und ringt ständig um seine Erfüllung. Dieses unwiderstehliche Verlangen nach Sein ist offensichtlich. Und da wir alle einen verletzlichen Köper haben, können wir dies tief in uns – dem Prinzip nach – verstehen. Umso erstaunlicher, dass man vor noch gar nicht so langer Zeit, Tieren das Empfinden von Gefühlen abgesprochen hat. Das tut man heute zum Glück nicht mehr. Heute versucht man, das Gefühlsleben von Pflanzen zu verstehen. Und da das aufgrund der Andersartigkeit von Pflanzen ausgesprochen schwierig ist, wurde in der Schweiz vorsichtshalber schon einmal die Achtung der Würde der Kreatur auch für Pflanzen in der Bundesverfassung verankert.
Aber wieder zurück zu Deiner Frage.
Diese Lebendigkeit strebt nach Harmonie. Harmonie macht sie effektiv und sicher. Unharmonisch zu sein ist, zumindest auf längere Sicht und in einem großen Rahmen, immer weniger stabil und weniger effektiv als harmonisch zu sein. So besteht das Streben und der Erfolg von Ökosystemen darin, die Freiheit des Einzelnen in Einklang (Harmonie) mit dem Ganzen zu bringen, um lang und stabil existieren zu können.
Es gibt eine sehr alte Idee der Harmonie der Welt – der Akróasis. Dabei werden Harmonien aus der Musik, die wir als schön und angenehm empfinden, in Zahlen übersetzt, die wiederum in den kleinsten Teilen unserer Welt, aber auch in der Weite des Kosmos wiederzufinden sind. Entspricht etwas nicht dieser Harmonie, ist es meist instabil. Ich finde die Vorstellung, von Harmonien umgeben und selbst Teil davon zu sein, sehr schön.
Sind Pflanzen immer harmonisch, also schön? Die Pflanze wehrt sich gegen Angreifer, bildet Gifte und Dornen. Sie entwickelt scheinbar rücksichtslose Strategien, zum Beispiel, um an Licht zu gelangen. Manche Pflanzen töten gezielt Insekten für ihre Ernährung. Pflanzen besetzen Plätze und verdrängen andere Pflanzen. Das klingt aggressiv und nicht harmonisch. Aber wir reden hier über Pflanzen, nicht über Menschen, die sich streiten und die Kriege führen. Hier liegt ein großes Missverständnis vor. Uns fällt es schwer zu verstehen, dass Pflanzen, anders als wir, nicht bewerten, keine Moral brauchen, sie sind wie sie sind, sie sind sie selbst. Sie hinterfragen nicht wie wir. Auch hinter der Bildung einer wunderschönen Blüte, die eindeutig bestimmten Insekten gefallen will, steht niemals ein menschlicher Wesenszug wie Eitelkeit. Bei der Pflanze durchläuft nicht alles den Filter eines menschlichen Verstandes. Und damit bewegen sich Pflanzen auf einer ganz anderen Stufe als wir Menschen. Das meine ich nicht evolutionär im Sinne von mehr oder weniger entwickelt. Ich meine nicht wertend eine andere Stufe. Und hier glaube ich, liegt das Geheimnis der Schönheit von Pflanzen, es ist die Unmittelbarkeit des Lebendigen.
Meine Antwort auf Deine Frage, warum Pflanzen schön sind, lautet:
Weil das Leben schön ist!
„Pore l amor vislumbramos… a la vivacidad pura“ Octavio Paz
(Durch die Liebe erspähen wir einen Funken… der reinen Lebendigkeit)
„Nur, indem wir an Tieren und Pflanzen die Außenseite innerlich gefühlter Lebendigkeit sehen, erfahren wir, was es heißt am Leben zu sein (….) so wie wir manche Emotionen erst in der Schönheit eines Kunstwerks erkennen, lotet der Kontakt mit anderen Wesen die Tiefe unseres Herzens aus und macht uns zu uns selbst.“
Andres Weber
Alles Liebe,
Dein Johannes
Mein Freund ist 3 Jahre alt. Also an der Altersgrenze, an der normalerweise unsere Erinnerung endet. Mein Freund ist hellwach, präsent und neugierig und für sein Alter blitzgescheit. Er wird sich vermutlich an unsere Fragestunden nicht erinnern. Aber er hat einen Freund, der ihm aus dieser Zeit berichten wird. Wie weit reicht Ihre Erinnerung?
In diesem Sinne